Imaging of Matter
Erstmals Quantenfluktuationen in komplexen Molekülen direkt sichtbar gemacht
7. August 2025

Foto: European XFEL
Aufgrund der Heisenbergschen Unschärferelation der Quantenphysik kommen Atome und Moleküle selbst im niedrigsten Energiezustand nie ganz zur Ruhe. Forschende am European XFEL in Schenefeld bei Hamburg haben diese Quantenbewegung nun erstmals in einem komplexen Molekül direkt messen können. Dabei mussten sie das Molekül allerdings zerbersten lassen, wie sie im Wissenschaftsmagazin Science berichten.
Absoluten Stillstand gibt es nur in der klassischen Physik. In der Quantenwelt ist selbst der Grundzustand mit niedrigster Energie von andauernder Bewegung geprägt. Grund ist eine quantenphysikalische Gesetzmäßigkeit, die Werner Heisenberg bereits vor einhundert Jahren bei der Entwicklung der Quantenmechanik aufgedeckt hat. Die sogenannten Nullpunktsfluktuationen sorgen dafür, dass Atome selbst bei Temperaturen am absoluten Nullpunkt nicht genau an Ort und Stelle verweilen. Am European XFEL in Schenefeld haben Forschende das bislang Unsichtbare nun unmittelbar sichtbar gemacht – und die Quantenwelt damit ein Stück fassbarer.
Einem internationalen Team um Rebecca Boll, von der Experimentierstation SQS (Small Quantum Systems) von European XFEL, Ludger Inhester von DESY und dem Exzellenzcluster „CUI: Advanced Imaging of Matter" und Till Jahnke vom Max-Planck-Institut für Kernphysik, Heidelberg, ist es gelungen, das kollektive Zittern eines kompletten Moleküls sichtbar zu machen. Mit einem ausgeklügelten Experiment und einer raffinierten Datenanalyse konnten sie die Quantenfluktuationen des aus elf Atomen bestehenden 2-Iodpyridin-Moleküls (C5H4IN) messen – ein Meilenstein in der molekularen Bildgebung. Ihre Arbeit beschreiben sie in der angesehenen Fachzeitschrift Science.
In einer Art mikroskopischer Urknall fliegen die Atomkerne auseinander
Die Forschenden setzten dabei eine Methode ein, die so spektakulär ist wie ihr Name: Coulomb-Explosion-Imaging (CEI). Die ultrakurzen und extrem intensiven Röntgenlaserpulse des European XFEL entreißen den Atomen einzelner 2-Iodpyridin-Moleküle schlagartig zahlreiche Elektronen. Die verbleibenden Atomrümpfe werden dadurch positiv geladen. Sie stoßen sich gegenseitig ab. Die Folge ist eine Art mikroskopischer Urknall: Die Atomkerne fliegen explosionsartig auseinander.
Dennoch können die Forschenden aus den gemessenen Flugrichtungen und -geschwindigkeiten der Fragmente die ursprüngliche Anordnung der Atome rekonstruieren – mehr noch: Auch die winzigen quantenmechanischen Schwankungen können sie damit sichtbar machen.
Das 2-Iodpyridin-Molekül ist ein sogenannter Pyridin-Ring. Er besteht aus einem Kohlenstoffring, in dem ein Stickstoffatom eingebunden ist. An diesem Pyridin-Ring hängt zudem ein Iod-Atom. Klassisch betrachtet ist das ganze Molekül vollkommen planar – das heißt: Alle Atome des Moleküls befinden sich exakt in einer Ebene. Bei einer klassischen Coulomb-Explosion müssten alle Atome und Fragmente daher genau in der Molekülebene davonfliegen, zumal die Forschenden das Molekül im Grundzustand untersucht haben. Abweichungen durch eventuelle Molekülschwingungen können daher ausgeschlossen werden.
Geladene Atome finden sich außerhalb der erwartbaren Molekülebene
Trotzdem maß das Team geladene Atome außerhalb der klassisch zu erwartenden Molekülebene. Ihre Messungen deckten sich mit den sehr detaillierten Simulationsrechnungen, die auch Methoden des Maschinellen Lernens umfassten. „In diesen Berechnungen haben wir explizit die Quantenfluktuationen einbeziehen müssen, um die Daten reproduzieren zu können“, sagt Cluster-Forscher Benoît Richard von DESY und der Universität Hamburg, Erstautor des Science-Papers.
„Wir konnten überdies die Quantenfluktuationen in den Messdaten sehen“, sagt Ludger Inhester. „Das heißt: Die Atome im Molekül zittern nicht unabhängig voneinander, sondern bewegen sich in abgestimmten Mustern.“
Aufgenommen wurden die Messdaten von einem Nachweisgerät namens COLTRIMS-Reaktionsmikroskop – eines der Nachweisgeräte an der SQS-Experimentierstation, das den Nutzern zur Verfügung gestellt wird. Mit ihm lassen sich viele der Fragmente nachweisen und zugleich räumlich zuordnen.
„Wir hatten bereits 2021 erste Anzeichen für das korrelierte Verhalten der Atome in den Daten gesehen, aber es dauerte eine Weile, dies alles wirklich zu verstehen und auch unsere Kollegen von diesem tollen Fund zu überzeugen. Eine Herausforderung war, dass nicht alle Bruchstücke des Moleküls jedes Mal zuverlässig nachgewiesen werden konnten“, sagt Till Jahnke vom Max-Planck-Institut für Kernphysik, Heidelberg. Dieses Hindernis überwanden die Forschenden, indem sie ein von Benoît Richard entwickeltes statistisches Analyseverfahren verwendeten, das selbst aus solchen fragmentarischen Datensätzen die vollständige Impulsverteilung des Moleküls rekonstruieren kann. „Zudem lassen die sehr intensiven Röntgenblitze von European XFEL jedes Molekül sehr effizient und auf sehr ähnliche Weise explodieren“, betont Rebecca Boll. „Mit dieser Methode gelang uns die Entschlüsselung des Aufbaus des gesamten Moleküls“, erläutert CUI-Wissenschaftler Robin Santra von DESY und der Universität Hamburg. Zudem konnten die Forschenden eindeutig die „Fingerabdrücke“ der Quantenfluktuationen der Atome nachweisen.
Neue Wege zur Erforschung komplexer quantenmechanischer Systeme
Anders als bildgebende Verfahren wie etwas die Röntgenkristallographie eröffnet die neue Methode ganz neue Wege in der Erforschung komplexer quantenmechanischer Systeme. „Denn das Coulomb-Explosion-Imaging liefert nicht nur gemittelte Werte, sondern zeigt auch, was genau im einzelnen Molekül passiert“, sagt Boll. „In Zukunft könnten mit dieser Technik noch größere Moleküle untersucht und sogar zeitaufgelöste Filme ihrer inneren Bewegungen sind inzwischen möglich“, ist Michael Meyer, Leitender Wissenschaftler der SQS-Experimentierstation und Wissenschaftler im Cluster überzeugt: „Und das mit einer Zeitauflösung von weniger als einer Femtosekunde, also innerhalb einer Billiardstel Sekunde.“
Ein Folgeprojekt wird im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder am kürzlich verlängerten Exzellenzcluster „CUI: Advanced Imaging of Matter“ im kommenden Jahr gefördert.
Die nun veröffentlichte Arbeit zeigt eindrucksvoll, was möglich ist, wenn modernste Lasertechnik, Quantenmechanik und ausgefeilte Datenanalyse aufeinandertreffen. Text: XFEL, red.
Originalarbeit:
Benoît Richard, Rebecca Boll, Ludger Inhester, and Till Jahnke et al.
Imaging collective quantum fluctuations of the structure of a complex molecule
Science 389, 6760 (2025)